Schweizerische Schützenzeitung vom November 1932
Die Feldschützengesellschaft Wil, eine der ältesten Schützengilden des Landes, die ihren Ursprung wohl auf die kriegerische Zunft der «Kruttigen Böcke von Wil» im XV. Jahrhundert zurückführen kann, feiert den Abschluss ihrer Schiesssaison jeweilen auf ganz besondere Weise und getreu der von den Vorfahren übernommenen Tradition mit dem sogenannten »Steckliträge».
Diese originelle Veranstaltung, für deren zünftige Durchführung die Gesellschaft einen schönen Batzen sich kosten lässt, dürfte wohl einzig dastehen und daher gewiss weitere Lesekreise interessieren, sie sei deshalb hier kurz beschrieben.
Von altersher bekundet die hiesige Bevölkerung ihre Sympathie mit diesem Volksfest durch reichliche Spenden an bar und von Naturalgaben aller Art. Dazu kommen dann die Gaben der teilnehmenden Schützen, sodass einige Hundert Naturalgaben bereitliegen. Alle diese schönen, nützlichen und lustigen Dinge werden nun an Stecken gebunden und nachher durch die städtische Schuljugend im Triumphzuge durch die Strassen der Stadt getragen. Mittags 12 Uhr sammeln sich die Buben und Mädels auf dem historischen Hofplatz zur Entgegennahme dieser Steckligaben. Schon diese Gabenausteilung an die rassige Jugend hat etwas Besonderes für sich, wenn das Jungvolk sich um die schönsten Sachen reisst mit ohrenbetäubendem Lärmen und Schreien, ich, ich, ich! Denn jedes möchte doch eine ansehnliche Trophäe erobern und am Steckli umhertragen. Der Vorrat reicht aber trotz der enormen Zahl leider nicht aus, die mehr als 700 anwesenden Kinder alle zu beglücken, ein Teil derselben muss daher mit Stecklifähnchen vorliebnehmen.
Inzwischen haben die Organe der Gesellschaft den Festumzug geordnet und bereitgestellt, sodass der Präsident punkt 13 Uhr das Zeichen zum Abmarsch geben kann. Jetzt beginnen die Tambouren zu schlagen, die Masse kommt in Bewegung und der Festzug wälzt sich unter dem freudigen Jauchzen und Jubeln der mitziehenden grossen Kinderschar durch die Hauptstrassen des Städtchens bis zum «Schwanen». Voraus das Tambourenkorps, die wuchtig tönenden Baslertrommeln bearbeitend, dann das städtische Wappentier, der zottige Bär mit geschulterter Muskete einher trottend, hinter ihm wird zum Gaudium von Gross und Klein der lebensgrosse Hampelmann (Bajazzo) mit seinen beweglichen Gliedern auf einer Stange in Funktion gesetzt. (Der gleiche Bajazzo erscheint auch beim Schiessen auf der Stichscheibe für jeden Treffer von 96 und mehr Punkten, hier aber zur Belustigung der Schützen und Warner.)
Jetzt folgt die Hauptattraktion, die ganze Jugendschar, durch die Lehrerschaft in wohlgeordneten Reihen gehalten, alle die verschiedenen Gaben und farbigen Fähnchen auf Stecken gebunden tragend, ein farbensattes, fröhliches Bild. Wie stolz sie sich gebärden, die Jungen und Mädchen mit den eroberten Schätzen, wie sie stramm im Takt der Musik marschieren, hier ein sauberes Mädel mit einer schönen Vase, dort ein Knirps die aufgebundene Lyoner Wurst schwingend, wieder zwei Mädchen mit einem grossen Tableau, dahinter ein grösserer Bub mit einem Kistchen Zigarren liebäugelnd usw., usw. So wechselt das Bild beständig in buntem Gemisch der nützlichen und Luxusgegenstände, unterbrochen von weiteren ulkigen Bajazzos auf Stangen. Schliesslich hat aber auch dieser lange Reigen fröhlicher glücklicher Kinder ein Ende genommen und in gebührendem Abstand folgt die schneidige Stadtmusik mit ihren schmissigen Märschen dem nachfolgenden zweiten Teil des Zuges ein flottes Marschtempo sichernd. Anschliessend die Zeigermannschaft in roter Uniform mit Zeigerkellen, dann die Warner mit Tellermützen in strammer Ordnung stolz einherschreitend, in vollem Bewusstsein ihres wichtigen Amtes und als unser würdiger Nachwuchs. Hinder den Warnern wieder zwei Knaben, die Juxscheibe tragend, dies Jahr das farbige Bild des Rosenobers der Jasskarten, 1 Meter gross, darstellend.
Endlich folgen die Schützen, die in grosser Zahl, bewaffnet, stramm marschierend in militärischem Schritt, einen würdigen Abschluss des Ganzen bildend.
Der Schützengesellschaft voraus natürlich der schmucke Fenner inmitten eines Kranzes holder Wiler Schützentöchter in Fürstenländertracht, dieweil das Ewigweibliche in seiner Anmut und Würde an keinem rechten Fest fehlen darf. So schlängelt sich der lange Zug unter Musik und Trommelklang zur Freude des Volkes durch Strassen und Gassen, um beim «Schwanen» sich aufzulösen. Hier harrt nun der Jugend die Belohnung für das lange Ausharren, indem nach altem Brauch jedes der Kleinen sein Steckli gegen einen schmackhaften «Ring» (Bretzel) eintauscht.
Nach kurzem Labetrunk marschieren die Schützen unter Trommelwirbel zum Schützenheim, wo sie durch Böllerschüsse empfangen werden und wo alsbald ein lebhaftes Geknatter den Beginn des Endschiessens anzeigt. Bis Montagabend dauert der Wettkampf, denn nach alter Väter Sitte wollen die Schützen noch einmal tüchtig schiessen können und demgemäss enthält der Schiessplan mindestens 6 verschiedene Stiche, in welchen sich die Schützenkameraden im letzten Hosenlupf messen. Grosser Anklang findet die Juxscheibe mit dem Sujet des Rosenober, in seiner originellen Ausführung und Einteilung auf die Schützen besonderen Reiz ausübend.
Am folgenden Dienstag finden sich die Schützen mit ihrem «Anhang» im grossen Schwanensaale ein zum üblichen Absenden mit Familien- und Schlussabend. Auf diesen Anlass freuen sich die Schützenfrauen schon lange vorher; sie sind gespannt auf die Verkündung der Schiessresultate im Allgemeinen und auf diejenigen ihrs Herzallerliebsten im Speziellen. In der offiziellen Begrüssungsansprache des Präsidenten,
Herrn Hptm Alfred Hug, nimmt derselbe Veranlassung, die splendiden Ehrengaben in bar und in natuara der Bevölkerung namens der Feldschützengesellschaft wärmstens zu verdanken; er streift kurz den schönen Brauch des «Stecklitäge» und gibt das Versprechen ab, dass die Feldschützengesellschaft Wil dieses Jugend- und Volksfest auch über die heutige Krisenzeit durchhalten und damit einer späteren Generation erhalten werde. Dem Stifter des neuen Wanderbechers für den Vereinsmatch, Ehrenmitglied Josef Zehnder, wird vom Präsidenten ein Kränzchen der Anerkennung gewunden und die schöne Spende im Namen der Gesellschaft gebührend verdankt.
Es folgt nun die Verlesung der Ranglisten mit anschliessendem Gabenzug. Von den 54 schiessenden Mitgliedern haben 47 das Endschiessen mitgemacht. Die Steckli sind verschwunden, dafür prangt auf der Bühne ein reichbeschickter Gabentempel, so üppig, dass jeder Schütze in allen Stichen eine Gabe wählen kann, da gibt’s freudige Überraschungen und Zwischenrufe in Menge. Zur Abwechslung erfreut uns der H.H. Schützenpfarrer mit einer launigen Ansprache. Es sei hier orientierend bemerkt, dass die Wiler Feldschützen von Amtes wegen und nach alter Überlieferung auch heute noch einen eigenen Schützenpfarrer zu den ihrigen zählen, welcher den zweiten Endschiessentag mit einem Gottesdienst für die verstorbenen Mitglieder und Schützenkameraden einleitet, an dem auch die Schützen mit ihren Frauen fast vollzählig teilnehmen. Nachher stellt sich der H.H. Schützenpfarrer auch zum Schiessen ein.
Wenn inzwischen alle Schützenfrauen ihren Bedarf an Haushaltungsartikeln u. dgl. aus dem Vorrat des Gabentempels gedeckt und alles seinen Abnehmer gefunden hat, dann ist der Uhrzeiger meist auf 23 Uhr vorgerückt und es ist nun die höchste Zeit, den «ganz gemütlichen Teil» loszulassen; denn die älteren Kaliber möchten nachher auch noch etwas walzern, steppen und foxtrotteln, während sich der junge Nachwuchs nach den Rumbas, Charlestons und Englisch Waltz sehnt. Es dauert auch nicht lange und ein eigenes Theater-Ensemble bringt einen typischen Huggenbergerschwank über die Bretter in einer urfidelen Aufmachung, und die Lachmuskern haben es eine Zeitlang nicht «ring».
Kaum hat sich der Vorhang wieder gesenkt, so setzt auch schon die rassige Jazzmusik ein und allsobald drehen sich Männlein und Weiblein in einheimischen und exotischen Verrenkungen im Kreise. So geht der Rummel vorwärts, bis die Musik sich schachmatt erklärt. Männiglich stärkt sich zum Abschluss mit einem Frühtrunk und strebt in vorgerückter Stunde befriedigt vom schönen Abend den heimatlichen Penaten zu.
Das Endschiessen 1932 mit seinem «Steckliträge» reiht sich würdig seinen Vorgängern an und zeigte mit seinem guten Gelingen, der grossen Beteiligung seitens der Schützen, wie durch die ausserordentliche Unterstützung aus den Bevölkerungskreisen eine besondere Note.
Auf Wiedersehen anno 1933!
A.M.W.
Verm. Ehrenmitglied Alfred Müller, Wil
Ebenfalls Schützenkönig Endschiessen 1932